Norbert
Jüdt
Ästhetische Bildung im Fächerverbund
Mensch, Natur und Kultur
Handreichung und Hintergrund mit dem Schwerpunkt Bildende Kunst
Die erste Vorbemerkung gilt der Verwendung des Begriffes Ästhetische Bildung. Im schulischen Kontext und in der Didaktik wird meistens der Begriff »Ästhetische Erziehung« verwendet. Ich spreche demgegenüber lieber von Ästhetischer Bildung, weil ich davon ausgehe, dass die Beschäftigung mit ästhetischen Phänomenen (wahrnehmend und gestaltend) den Menschen ganz grundlegend bildet (die »bildenden« Künste lassen sich auch in diesem Sinne verstehen!). Bildung verstehe ich dabei nicht als Abfüllen des menschlichen Speichersystems mit so genannten Bildungsgütern, sondern im Sinne der Klafki-Formel des wechselseitigen Erschließens der Welt für den Menschen und des Menschen für die Welt. Dies ist ein lebenslanger Prozess.
....
Was Welterschließung über
ästhetische Zugänge konkret bedeuten kann, soll hier an einem Beispiel
illustriert werden. Ausgangspunkt sei eine typische BK-Situation: Die
Betrachtung eines Kunstwerks, hier eines Bildes von Paul Klee: Der Goldfisch. [1]
Zunächst könnte eine traditionelle
Sequenz ablaufen:
Einstimmung durch eine kurze
Musik-Einblendung und eine Phantasiereise, welche die Kinder in eine
Unterwasserwelt versetzt – Präsentation des Bildes, der Leuchtkraft der Farben
wegen als Diapositiv in einem abgedunkelten Raum – Freie Äußerungen der Kinder
zum Bild – Angeleitete Wahrnehmungsübung: Farben
(Gelb-Rot-Violett-Blau-Übergänge); Verteilung der Farben (dominantes Gelb im
Goldfisch, aber er enthält bereits fast alle Farbtöne der anderen Fische);
Vermutungen zur Maltechnik (die Verwendung von Öl- und Wasserfarben ist in der
Reproduktion nicht zu erkennen); Art des Farbauftrags (weiche Ränder,
Verwischungen); Farbkontraste (hell-dunkel / kalt-warm); Farbstimmung; Formen
(Wellenlinien, Parallelität Symmetrie der Blattanordnung); Beziehungsgefüge der
Formen (die kleinen Fische sind nach außen gerichtet); Form-Kontrast
(groß-klein); schließlich: Beziehungen zwischen Form, Farbe und Inhalt (z.B.
Beobachtung: Die kleinen streben vom Großen weg. Interpretation: sie haben
Angst. Die dunklen Farben symbolisieren dieses Gefühl und der dominierende
Goldfisch springt geradezu aus dem Dunkel heraus und setzt sich über jede Angst
(der anderen) hinweg. Können wir das in unser eigenes Leben übersetzen?
Im zweiten Teil der Sequenz
gestalten die Kinder selbst ein »Aquarium« in der Wachskratztechnik: ein
DIN-A4-Blatt wird mit den Farben der Fische und der Pflanzen in kräftigem
Wachsfarb-Auftrag abgedeckt, darüber wird ebenfalls vollflächig Dunkelblau oder
Schwarz gelegt, schließlich werden die Formen mit einem Schaber herausgekratzt.
Während die Kinder arbeiten, erzählt
die Lehrerin ihnen einiges aus dem Leben von Paul
Klee.
Info- bzw. Arbeitstext
Der Maler und Grafiker Paul Klee wurde im Jahre 1879 In der Nähe von Bern in der Schweiz geboren. Seine Eltern förderten seine Neigung und seine Begabung zum Zeichnen. Außerdem lernte er so schnell und gut Geige spielen, dass er schon mit zehn Jahren im Stadtorchester von Bern mitspielen konnte.1998 begann Klee in München Kunst zu studieren, er brach das Studium aber wieder ab, da er mit den damaligen Ausbildungsmethoden nicht zurechtkam. Er wollte nicht naturgetreu abmalen, sondern seine eigene phantastische Bilderwelt erfinden. Von ihm stammt der Satz: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« [Was könnte er damit gemeint haben?] Trotzdem sind meistens Gegenstände bzw. Figuren aus der Wirklichkeit zu erkennen. [Suche solche in einigenseiner Bilder] In seinen Bildern spielt immer die Linie eine bedeutende Rolle - als Umriss, als Gerüst, als Gliederung der Fläche, als Muster in einer Figur. [Suche solche in einigenseiner Bilder]
Am Anfang des 20. Jahrhunderts lernte er viele damals moderne Künstler kennen. [Suche in einem Kunstlexikon oder in Wikipedia, welche das gewesen sind] Im Jahre 1920 wurde er am sogenannten Bauhaus, einer Kunsthochschule in Weimar, Lehrer für Glasmalerei und Weberei und 1931 Professor an der Kunstakademie in Düsseldorf. 1933 mußte er Deutschland jedoch verlassen, weil die Hitler-Diktatur die moderne Kunst als »entartet« bezeichnete und den Künstlern die Arbeit verbot. Paul Klee starb 1940 in Locarno-Muralto in der Südschweiz.
Beiträge zur Welterschließung sind
bereits in diesem rein kunstbezogenen Teil enthalten, insofern Bildende Kunst
selbst einen Teil der menschlichen Kultur ausmacht (s. Abschnitt 4.2):
Kenntnisse über einen Maler
der Klassischen Moderne, dessen Zeit- und Lebensumstände, ggf. Stilbegriffe,
Klärung von Farb- und Formbegriffen, Kenntnisse und Verständnis für die
Komposition;
Fähigkeiten: Einübung in
eine gestalterische Technik und die dazu notwendigen Kenntnisse;
Haltungen/Einstellungen: Entwickeln
von Ausdauer bei der Umsetzung der nicht ganz einfachen Wachskratztechnik,
Überprüfen und Gewinnen des eigenen Standpunktes gegenüber dem Bild,
Gefallen/Nichtgefallen.
Das allein wäre jedoch noch keine
ästhetische Zugangsweise zu außerfachlichen Bereichen der Welterschließung.
Hierzu gäbe es jedoch z.B. folgende Möglichkeiten:
§ Wir versuchen mit den Augen (unterstützt durch Handbewegungen) die Unterkante/Oberkante einiger der kleinen Fische über den Körper hinaus fortzusetzen und erkennen, dass es sich um (mehr oder weniger verbeulte) Kreisbögen handelt. Nun können wir auf großen Papierbögen Fisch-Formen mit dem Zirkel konstruieren und machen dabei Entdeckungen über den Zusammenhang der entstehenden Fischformen mit der Größe der Kreise/Radien, dem Abstand der Kreismittelpunkte und ihrer Lage zueinander. [2] Wir können auch verschieden große Kreise auf Folie kopieren und die Kreise auf dem OHP übereinanderschieben.
[Grafik FISCHE]
§ Wir untersuchen die Wellenformen. Können wir diese auch mit dem Zirkel darstellen? Natürlich, das sind ja lauter Kreisbögen, die wir, einmal nach oben, einmal nach unten aneinander setzen können (z.B. an ausgestanzten Papier-Kreisen Sekanten falten, schneiden, zusammenkleben). Wenn wir verschiedene Größen verwenden, haben wir bereits eine neue Gestaltungsaufgabe: Ein Wellenbild aus aufgeklebten Kreisabschnitten / Halbkreisen (Kollage). Damit lassen sich auch schräg laufende Wellen darstellen. Verwenden wir Transparentpapier, erhalten wir durch gezielte Überschneidungen Hell-Dunkel- und damit Tiefenwirkungen. Durch die Auswahl der Transparentpapier-Farben (z.B. von Dunkelgrün über Hellgrün bis Weiß) können wir sogar die Farbperspektive der Natur nachvollziehen: Wir beginnen am Horizont mit einem weißen Streifen, schließen mit einigen Reihen kleiner weißer Wellen an, durchsetzen diese hin und wieder mit hellgrünen Segmenten und gehen nach unten zunehmend zu dunkleren und größeren Wellen über. [3]
[Grafik WELLEN
§ Jetzt vergleichen wir einmal Unterwasserfotos mit dem Bild von Paul Klee. Sehen wir da auch solche Wellenlinien? Nein. Was lernen wir daraus? Die Wellenlinien sind keine Abbildungen von Wirklichkeit, sondern Zeichen für Wasser, das wir (außer beim Tauchen) ja nur an der meist bewegten Oberfläche sehen. Und diese Erkenntnis ist ein gutes Beispiel für Klafkis »kategoriale Bildung«: Die Untersuchung der Wellenlinien erschließt eine ganze neue Begriffskategorie: Zeichen für... sind Abstraktionen für eine Fülle von realen Phänomenen, die unser Gehirn auf eine grafische Grundform reduziert. [4] (Wie wär´s mit einer weiteren Bildbetrachtung zu diesem Thema – z.B. René Magritte: Der Verrat der Bilder?
§ Nun betrachten wir Fotos von verschiedenen Wellen an Wasseroberflächen. Haben die überhaupt eine Ähnlichkeit mit den Wellen von Paul Klee? Auf den ersten Blick wenig, dann aber dieselbe Erkenntnis: die Wellenlinien des Kunstwerks sind Abstraktionen, die das Auf und Ab des Wassers grafisch in eine möglichst einfache, prägnante, nämlich regelmäßige Form bringen.
§ Von der regelmäßigen Wellenlinie als Zeichen für unendlich viele nur mehr oder weniger regelmäßige Naturphänomene ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Sinuskurve als Visualisierung einer regelmäßigen Schwingung im Verlauf der Zeit! Zu hoch für die Grundschule? Wir zeigen den Schülern den Versuchsaufbau mit der Stimmgabel, die an einem Arm eine kleine Stahlfeder trägt. Diese berührt eine rußgeschwärzte Glasplatte. Jetzt lassen wir die Kinder zuerst vermuten und anschließend staunen: wenn die Stimmgabel tonlos hinuntergleitet, zeichnet die Stahlfeder nur einen Strich. Bringen wir sie vorher zum Schwingen, erzeugt sie im Fallen eine Wellenlinie. Darüber können auch schon Grundschüler staunen. (Und Hauptschüler, die diese Sequenz in der Grundschule erlebt haben, werden vielleicht einen leichteren und besser motivierten Zugang zur Sinuskurve als Bild für den Wechselstrom haben als diejenigen, die den Goldfisch ausschließlich als Kunstwerk behandelt haben.)
§ Wir betrachten die Schuppen des Goldfisches. Sie sind nicht gleichmäßig über den ganzen Körper verteilt. Erkenntnis: Für unser Gehirn reicht eine Andeutung – der Rest wird in der Vorstellung ergänzt. (Außerdem: Wie sehen denn die Schuppen beim Karpfen aus? – Und hat eigentlich jeder Fisch Schuppen?) Wie unterscheiden sich Schuppen von Wellenlinien? Sie haben auch wieder Ähnlichkeit mit einer halbierten Wellenlinie. Diesmal kleben wir die Papierhalbkreise aber immer in derselben Richtung auf. In welche Richtung zeigen die Schuppen? Stimmt das mit der Natur überein? Wir vergleichen den Goldfisch mit Fotos von verschiedenen Fischen. Die Richtung der Schuppen stimmt überein. Warum sind sie nicht umgekehrt angeordnet? Zu dieser Frage liefern wir Fotos von Federn, Ziegeln, Schindeln u.ä.: (Siehe Seite 17.) Gibt es so etwas auch bei Pflanzen?
§ Jetzt fehlen nur noch ein paar kleine Experimente zum Wasserfluss in der richtigen und in der falschen Richtung, dann haben wir wieder ein Stück kategoriale Bildung betrieben, nämlich in verschiedenartigen technischen und natürlichen Systemen das gemeinsame Prinzip erkannt, das in dem betrachteten Kunstwerk nur angedeutet ist.
§ Schließlich könnten wir die Form der Fische auch noch mit Mähdreschern, Baggern, Lastwagen, Sportwagen, Schiffen, Unterseebooten, Luftschiffen und Flugzeugen vergleichen, um auf das Prinzip der Stromlinienförmigkeit und des Bewegungswiderstandes in Wasser und Luft zu sprechen zu kommen. Apropos Luft: Solch ein ästhetischer Zugang liefert einen günstigen Einstieg in das Thema »Luft« in physikalischer, biologischer, technischer – und am Ende möglicherweise wieder in künstlerischer Hinsicht. Die Wege funktionieren in beiden Richtungen – und wir haben Stoff für ein zweiwöchiges Unterrichtsvorhaben aus der Betrachtung eines Kunstwerkes abgeleitet!
Ist so etwas nun eine
»Vergewaltigung und/oder Entweihung« des Kunstwerks? Für mich nicht. Denn es
kam ja am Anfang in ganz gebührlicher Weise zu seinem Recht. Und wer soll sich
entweiht fühlen, wenn anschließend den Gedanken Freilauf gewährt wird? Das ist
es doch, was uns die PISA-Studie mit Recht vorwirft: dass wir das Denken zu
sehr in vorprogrammierte Bahnen lenken! Wie können wir besser die Neugier der
Kinder wieder entfachen als auf solche Weise? Außerdem könnten wir Paul Klee ja einmal selber fragen. Hier
seine Antwort: »Was muss ein Künstler alles sein, Dichter, Naturforscher,
Philosoph!« [5] Er hätte
sicher keinen Weihrauch über seinen Bildern gewollt!
...
Im folgenden Abschnitt sollen
verschiedene Funktionen der Ästhetischen Fächer im Fächerverbund Mensch,
Natur und Kultur skizziert werden. Schwerpunktmäßig wird dabei Bezug
genommen auf das Fach Bildende Kunst, aber die dargestellten Funktionen
gelten gleichermaßen auch für die anderen »musischen« Fächer
einschließlich einerer integrativ zu verstehenden Bewegungserziehung
(s.o.).
Die Lehrpläne Bildende Kunst von 1984 und 1994 im Vergleich deuten ein
sich wandelndes Verständnis von den Aufgaben dieses Faches an: 1984 geht es
schwerpunktmäßig um »eigenständigen bildnerischen Ausdruck«, um
Auseinandersetzung »mit den vielfältigen Erscheinungsformen des Kunstschaffens«
und »Interesse ... für die Kunst verschiedener Zeiten«, während
Wahrnehmungserziehung beim allgemeinen
Erziehungs- und Bildungsauftrag gar nicht und im Abschnitt über den Unterricht
in BK nur am Rande erwähnt wird. Gerade die Wahrnehmungserziehung wird 1994
jedoch in den Vordergrund gerückt. »Grundlegendes Bildungsziel ist ... ist die
Erziehung zu bildnerischem Denken, bei dem das Kind seine ihm eigenen Wahrnehmungs-
Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten entdecken kann. Sie werden durch Kunst-
und Werkbetrachtung sowie entsprechende Wahrnehmungsübungen vertieft.
... Über Sensibilisierung der Wahrnehmung, insbesondere in der
Bildbetachtung ... entwickeln die Kinder kreative Fähigkeiten...« Ein
richtungsweisendes Buch aus dieser Zeit heißt: Kunstbetrachtung als
Wahrnehmungsübung... .[6]
Es geht also nicht mehr in erster Linie um das Kennenlernen des Kulturbereichs
der Künste und das Beherrschen ausgewählter künstlerischer Gestaltungs- bzw.
Ausdrucksmöglichkeiten, sondern um die Betätigung der Sinne in der
Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen des künstlerischen Bereichs. Letztere
werden gewissermaßen funktionalisiert als Medium zur Entwicklung der
Wahrnehmung. Ästhetisch in diesem Kontext ist alles, was die Sinne beschäftigt,
herausfordert, sensibilisiert, ausdifferenziert. Das Fach Bildende Kunst
wird nicht unter kunsthistorischen Aspekten definiert, sondern eher als
Anleitung zum subjektiven Zugriff auf Objekte der Wahrnehmung (nicht nur des
Kunstbereichs) und zum kreativ handelnden Umgang damit:[7] Bildende Kunst nicht mit dem Anspruch
einer Annäherung an kunsthistorische »Objektivität«, sondern – der »personalen
Wende« geschuldet – subjektiv vom Kind aus betrachtet: was bedeutet mir dieses
Kunstwerk, was bedeutet mir gestalterische Betätigung? (Ob dieses
gestalterische Aktiv-Sein auch Kunst hervorruft, ist eine überflüssige Frage:
die gestalterische Betätigung hat in jedem Fall ihren erzieherischen und ihren
bildenden Wert in sich.) Bildende Kunst vor allem nicht als Ansammlung
von Wissen und Deutungswissen über Künstler und Werk entsprechend der
»gymnasialen« Frage: Was wollte uns der Künstler mit diesem Werk sagen? Sondern
als ständige aktive Verbindung von Wahrnehmen und Gestalten als zwei
Grunddimensionen menschlichen Verhaltens.[8]
Die Ausweitung des Ästhetik-Begriffes über die »Theorie des Schönen/Hässlichen« hinaus zu einer umfassenderen Theorie über das Wesen und den Gebrauch der Aisthesis hat, wie schon erwähnt, über die gemeinsame Aufgabe der Wahrnehmungserziehung zu einer breiten Schnittmenge zwischen Ästhetischer Erziehung und HuS geführt. »Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu.« (John Locke) Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre.
Dieser Satz ist im pädagogischen Kontext eine programmatische
These wider die »Verkopfung« unserer Schulen – eigentlich ein uraltes Thema,
wenn man an das Prinzip der Anschauung denkt, das heute unter dem
Gesichtspunkt einer hirnphysiologisch begründeten konstruktivistischen
Didaktik eine interessante Aktualität erfährt:
Die Leistung der Sinne besteht
nicht im Abbilden von Außenwelt. Vielmehr ist die Wahrnehmung selbst bereits
ein Akt der Konstruktion und der Interpretation, d.h. eine Gestaltung,
die sich aus dem wahrnehmenden und handelnden Umgang mit den Dingen entwickelt.
Wir nehmen aufgrund der Funktionsweise unseres Nervensystems nicht die äußere
Realität wahr,[9] sondern das,
was unsere Sinne aus den (an sich bedeutungslosen, jedoch systematischen und
deshalb interpretierbaren) Signalen der
Außenwelt aufgebaut und was unser Gehirn mit Bedeutung versehen hat.[10] Unter solchen Umständen erscheint es noch
dringlicher als zu Zeiten des Glaubens an die Abbildungsfunktion der Sinne,
Objekte der Anschauung in vielfältigen Arrangements und Zusammenhängen für die
Sinne prägnant zu präsentieren und zum Ausgangspunkt selbsttätiger Erforschung
und Deutung zu machen. In diesem Sinne erhält das Zitat von Meike
Aissen-Crewett eine ganz fundamentale Bedeutung: Ȁsthetische Erziehung
ist die Erziehung schlechthin.« [11] Indem wir die Wahrnehmungsfähigkeit
fördern, erarbeiten wir das Fundament
zu jeglicher Art von menschlicher Erkenntnis. Denn alle Abstraktion und alles
spätere Denken kann sich nur auf der Grundlage eines konkret anschaulichen
Handelns in der Welt entwickeln.
Betreiben wir im Unterricht
Wahrnehmungserziehung anhand von Inhalten der verschiedenen Künste, befinden
wir uns im dritten Bereich des Verbundes Mensch, Natur und Kultur. Was
wir hier an Wahrnehmungsförderung leisten, kommt ohne Abstrich auch der
Aneignung von Mensch und Natur zugute.
Ein bereits älteres Verständnis von
Kunsterziehung sah es als eine wichtige Aufgabe des Faches an, junge
Menschen an die Kunst als einen Teilbereich gesellschaftlicher
Kulturformen heranzuführen. Auch im Bildungsplan von 1984 heißt es: »Bildende
Kunst soll den Schüler befähigen, sich in altersgemäßer Weise mit den
vielfältigen Erscheinungsformen des Kunstschaffens zu befassen und auseinander
zu setzen. Dies soll sein Interesse wecken für Werke der Kunst verschiedener
Zeiten, insbesondere der näheren und weiteren Heimat. Somit wird die Grundlage
für das Verständnis der abendländischen Kultur geschaffen...« (S. 186) Der Plan
von 1994 weitet den Blick über die Kunst i.e.S. auf alle visuell erfahrbaren
kulturellen Gestaltungen aus: »Das Fach Bildende Kunst will das Kind befähigen,
sich mit den vielfältigen bildnerischen Erscheinungsformen der vorgefundenen
und vom Menschen gestalteten Umwelt auseinander zu setzen. Diese werden
insbesondere in den Gestaltungsweisen und Formungen der Kunst erfahrbar.«
Dieses Anliegen ist auch heute
unverändert sinnvoll und findet auch im neuen Bildungsplan MNK eine
entsprechende Repräsentation: »Die Begegnung und aktive Auseinandersetzung mit Kunst,
Umwelt, Natur und Menschen fördert die Fantasie der Schülerinnen und Schüler
und entfaltet ihre individuellen Ausdrucksformen.« (BPl. 2004 S. 97) Allerdings
wird Kunst hier – entsprechend dem Verbundsgedanken – in eine Reihe gestellt
wird mit den anderen Inhaltsbereichen aus dem ehemaligen HuS, aber immerhin an
die erste Stelle.
Hinführung zum Kulturbereich Kunst beinhaltet z.B. Kenntnisse über Künstler und
Stilformen Gestaltungselemente, Gestaltungsprinzipien, verweilende Betrachtung
von Kunstwerken[13], aktives
Erproben von Gestaltungstechniken[14],
Einübung in eine tolerante Haltung gegenüber Werken anderer Schüler und Künstler,
die den eigenen Empfinden zuwiderlaufen[15] u.a.m.
Jede Wahrnehmungserziehung muss die
Konstruktionsweise des menschlichen Wahrnehmungssystems berücksichtigen. Das
ist eine triviale Feststellung. Wir können einen Gegenstand, den die Schüler
sehen sollen, nicht im Dunkeln präsentieren. (Möglich wäre dies sehr wohl, wenn
unsere Augen für Infrarot- und Wärmestrahlung empfindlich wären.) Weniger
trivial ist jedoch die Erkenntnis, dass die künstlerischen Gestaltungsprinzipien,
die unseren ästhetischen Urteilen über »schön« oder »hässlich« zu Grunde
liegen, nicht willkürlich, nicht völlig subjektiv, nicht beliebig sind, sondern
abhängig von der Verfasstheit unseres Nervensystems, das ja jede Wahrnehmung
transportiert. Diesen Zusammenhang hat Kurt
Staguhn bereits Anfang der 70er Jahre gesehen und in seinem Buch Kunsterziehung[16]
dargestellt. Was unsere Bildungspläne mit Gestaltungsprinzipien
bezeichnen, nannte er Künstlerische Gesetze.[17]
Diese sind nicht nur im Bereich der Künste am Werk, sondern in unserer
gesamten Außenweltwahrnehmung. Deshalb befasst sich der Schnittmengenbereich
zwischen Kunst und Produktion unter der Bezeichnung Design mit der
ästhetisch ansprechenden Form- und Farbgebung von Gebrauchsgegenständen, d.h.
die Funktionsgegenstände werden so gestaltet, dass unsere Sinne damit zufrieden
sind – und das sind sie nur dann, wenn entsprechende Gestaltungsprinzipien
berücksichtigt wurden. Deshalb muss sich auch der Architekt mit
Gestaltungsprinzipien auseinander setzen – oder die Floristin bei der
Zusammenstellung eines Blumenstraußes usw. Dieser Zusammenhang zwischen der
Konstruktion des Wahrnehmungssystems und den »universellen«
Gestaltungsprinzipien macht verständlich, dass bei der Betrachtung eines Kunstwerkes
durch eine Gruppe von Menschen (oder auch bei der Bewertungsdiskussion über
ein Schülerbild durch Lehrerin und Schüler) meistens »Schnittmengen-Meinungen«
zustande kommen, d.h. es entsteht in der Diskussion ein Austausch von ähnlichem
Empfinden oder wenigstens ein wechselseitiges Verständnis über subjektiv unterschiedliche
Empfindungen.[18]
Dieser Zusammenhang gibt uns auch die Chance, durch die Berücksichtigung ästhetischer Gestaltungsprinzipien im Unterricht wie im Leben, auf das die Schule vorbereiten sollte, Fehler zu vermeiden und Qualität zu verbessern.
Die »Schärfung« der Sinne (Sensibilisierung, Differenzierung, Intensivierung, aber auch Distanzierung von kritiklosem Überwältigtwerden durch Sinneseindrücke) verhilft uns, feinfühliger zu werden, besser unterscheiden zu können, weniger Fehler zu machen, Fehlertoleranzen zu verringern, mit anderen Worten: Qualität zu verbessern.
Dies gilt zunächst für den Bereich der Sensumotorik. Da sich aber alle kognitiven Operationen aus dem Umgang mit den Dingen entwickeln, werden auch die Tätigkeiten unseres Geistes um so sensibler, differenzierter, intensiver und kritischer sein, desto besser wir unsere Aisthesis in möglichst früheren Jahren entwickelt haben. Rationalität und Sinnlichkeit sind untrennbare Seiten derselben Medaille. Aus dem Urgrund sinnlich-konkreter Erfahrung abstrahiert sich stufenweise das Rationale – und dieses wiederum hilft uns, sinnliche Erfahrung zu ordnen und zu strukturieren. Im Bereich von Unterricht und Schule lassen sich ungezählte Beispiele finden, wie eine Ästhetisierung des Alltags die Qualität von Lernprozessen sowie die Produkte des Lernens qualitativ verbessert bzw. effektiver und effizienter macht.[20] Der Bildungsplan von 1994 enthält bereits eine Fülle von Verweisen auf den Stellenwert des Gestaltens – und zwar nicht im engeren Sinne des „Bildhaften Gestaltens“ (wie das betr. Fach noch im Bildungsplan für die Volksschulen von 1964 hieß), sondern im Sinne einer umfassenden gestalterischen Durchdringung des Unterrichts.[21] Das beginnt bei der Gestaltung der ersten Buchstaben-Übungsblätter des Erstklässlers, geht weiter mit dem Tafelbild der Lehrerin und endet bei durchgestalteten Präsentationsmedien im Rahmen der Projektprüfung.
Aus dem Bereich der Umweltgestaltung sei nur ein besonders augenfälliges Beispiel erwähnt, das gerade
auch im schulischen Bereich für Unbehagen sorgt: die vielen architektonischen
Bausünden aus den 60er- und 70er-Jahren: Öde gerasterte Gleichförmigkeit von
Plattenbauten langweilt unseren visuellen Sinn, die unkontrollierte und
ungestaltete Akustik beleidigt unsere Ohren und überreizt durch grellen
Dauerlärm das Nervensystem; rücksichtslose „Chemisierung“ von Baustoffen schafft
eine muffige Geruchsatmosphäre, „äzt“ die Atemwege und schädigt im schlimmsten
Fall sogar die Gesundheit. [22]
2 Was ist (im Blick auf die musischen
Fächer) eigentlich neu am neuen Bildungsplan?
2.1 Beispiel
für eine »integrative« Unterrichtssequenz
3 Funktionen der Ästhetischen
Erziehung im Fächerverbund MNK
3.1 Ästhetische
Erziehung als Wahrnehmungserziehung: Grundlage jeglicher Welterschließung
3.2 Bildende
Kunst als Teil der »Welterschließung«.
3.3 Grundlegung
zur Entwicklung der Persönlichkeit
3.4 Ästhetische
Gestaltungsprinzipien sind universal
3.5 Die
Berücksichtigung ästhetischer Gestaltungsprinzipien verbessert Qualität
4 Prinzipien für den Unterricht
4.5 Lernzielorientierung
und Kreativitätsförderung
4.6 Bezug
zur Lebenswirklichkeit
4.9 Ach
ja, das Klassenlehrerprinzip und das Problembewusstsein...
5 Gestalterische Themenbeispiele zu
den ersten vier Kompetenzbereichen des MNK-Plans
6 Exemplarische integrative
Unterrichts-Ideen zum Thema Raum und Zeit gestalten
Vorüberlegungen oder „didaktische Sachanalyse“
6.2.1 Woran
merken wir, dass der Schall Zeit braucht?
6.2.2 Orientierung
in der Zeit – kurze Zeiten, lange Zeit-„Räume“ – Zeit messen
6.2.3 Zeit
empfinden - subjektive Erfahrungen mit dem Zeit-Erleben
6.2.4 Zeitmaschine?
Vergangenheit, Gegenwart Zukunft
7.1 Vorschläge
für die Gestaltung von Plakaten
7.4 Folie
zum Schriftvergleich
7.5 Gestaltung
im Bildungsplan 1994
7.7 Erläuterungen
zum Fuge-Monument
[1] Paul Klee: Der Goldfisch - 49,6 x 69,2 cm - Öl- und Wasserfarben auf Papier auf Karton - Hamburger Kunsthalle
[2] Daraus könnten sich weitere Gestaltungsaufgaben ergeben: (a) Wir zeichnen ein Blatt voll mit sich überschneidenden Kreisen (mit dem Zirkel, aber auch (b) von Hand wäre das reizvoll) und suchen in den Überschneidungsbereichen alle möglichen Fische. Diese malen wir dann in verschiedenen helleren warmen Farben aus, die verbleibenden Flächen dagegen mit einer vielfältigen Blau-Grün-Palette. (c) Wie verändert sich der Bildeinsdruck, wenn wir die Farben über Scanner und Computer in die Komplementärfarben umkehren? [Befehl «invertieren«] – siehe Anhang 7.6. Was ändert sich, wenn wir «zusammengedrückte Kreise« / Ellipsen verwenden?
[3] So mancher Edel-Kunstpädagoge, der gelernt hat, dass Kreativität die Heilige Kuh der Kunsterziehung zu sein habe, wird vielleicht entsetzt aufschreien: Da kann das Kind doch nicht mehr frei aus seinem schöpferischen Inneren heraus eine eigene Bildwelt erschaffen (soll es ja auch gar nicht!), das ist doch rationaler Intellektualismus. Recht hat er! Nur ist es eine Illusion zu glauben, ein Kind könne gestalterische Fortschritte machen, wenn man es immer nur seiner oftmals völlig degenerierten eigenen «Schöpferkraft« ausliefert. Auch ästhetische Bildung gelingt nicht ohne rationale Durchdringung! Aber diese Diskussion muss an anderer Stelle geführt werden.
[4] Paul Klee selbst dazu: «Die Natur kann sich Verschwendung in allem erlauben, der Künstler muss bis ins letzte sparsam sein. Die Natur ist beredt bis zum Verworrenen, der Künstler sei ordentlich verschwiegen. - Wenn bei meinen Sachen manchmal ein primitiver Eindruck entsteht, so erklärt sich diese Primitivität aus meiner Disziplin, auf wenige Stufen zu reduzieren. Sie ist nur Sparsamkeit, also letzte professionelle Erkenntnis, also das Gegenteil von wirklicher Primitivität.«
[5] Zitiert nach
Ruhrberg, Schneckenburger, Fricke,
Honnef: KUNST des 20. Jahrhunderts. Taschen-Verlag 1998. Seiten 113.
[6] Walter BARTH: Kunstbetrachtung als Wahrnehmungsübung und Kontextunterricht. Europäische Hochschulschriften. Peter Lang, Frankfurt 1985. Seite 15.
[7] Aufgabenbeispiel: Betrachtung des leeren Abfallobjektes Waschmittelflasche und deren Umgestaltung zu einer Schweine-Skulptur.
[8] Das war der Ausgangspunkt des sogenannten «Fachpapiers MÄG«, welches zwei Jahrzehnte lang die Lehrerausbildung von BW im Ästhetischen Bereich geprägt hat.
[9] ...obwohl uns ein bestimmter inzwischen bekannter Funktionsbereich des Gehirns gerade dies suggeriert, aber eben nur suggeriert. Die Empfindungswerte unserer Wahrnehmungen (Farben, Töne, Formen, Temperaturen, Schwere, Widerstand, Weichheit, Rauheit...) sind keine Eigenschaften der Dinge, sondern Eigenschaften der vom Gehirn erzeugten Repräsentationen der Außenweltobjekte und –Phänomene.
[10] Zur Funktion des Wahrnehmungssystems sei auf eine digitale Präsentation des Verfassers hingewiesen: «Die biologischen Grundlagen des Lernens.« CD-ROM, 2005 (auf Nachfrage für € 10,00 gegen Vorkasse erhältlich).
[11] Meike Aissen-Crewett: Musisch-ästhetische Erziehung in der Grundschule. in Zs: GS 7/8 1987
[12] Gleiches gilt für alle musischen Fächer.
[13] Hinführung zum Kulturbereich Musik usw.: Kenntnisse über Musikinstrumente und Musiklehre, über textile Objekte/fremdartige Bekleidung, Sportgeräte und sportliche Regeln; verweilendes Hören von Musikstücken, verweilendes Betrachten und Sich-Auseinandersetzen mit textilen Objekten/fremdartiger Bekleidung, sportlichen Aktionen...
[14] Eigenes Erproben von Musiziertechniken, textilen Techniken, sportlicher Übungsformen...
[15] ... gegenüber fremdartig oder ungewohnt klingender Musik, gegenüber Bekleidungsformen, die nicht der eigenen Erwartung entsprechen, gegenüber ungeliebten Sportarten...
[16] Verlag Diesterweg 1972.
[17] Siehe hierzu das 10-seitige Script: Gestaltungs-Prinzipien bzw. Künstlerische Gesetze nach Kurt Staguhn (zusammengestellt und mit Gestaltungsaufgaben versehen von N. Jüdt. Das Manuskript kann gegen Vorkasse von Euro 5,00 beim Autor bestellt werden.)
[18] Dass solche Urteile nie deckungsgleich sein werden, liegt einerseits daran, dass verschiedene Betrachter in ihren Wahrnehmungsfähigkeiten unterschiedlich differenziert sind (durch unterschiedliche Sozialisation, Interessen, Begabungen...); andererseits liegt es an den je subjektiven emotionalen Bewertungen, z.B. auf Grund der Umstände, die ein und denselben Gegenstand für verschiedene Personen verschieden wertvoll machen.
[19] Siehe hierzu auch die digitale Folienfolge: N. Jüdt: Das Prägnanzprinzip, 2006, das in etwa übereinstimmt mit dem von Staguhn so genannten künstlerischen Grundgesetz der «gliedernden Unterscheidung«.
[20] Ein geistesgeschichtlich profundes und engagiertes Plädoyer für die Notwendigkeit, die Lehrerbildung von der Ästhetik her zu begründen, stammt von Johann J. Beichel: Ästhetische Bildung als Fundament der Lehrerbildung. Plädoyer für eine ÄSTHETISCHE WENDE. In: Zs. SEMINAR 4/2005. Soeben ist von demselben Autor ein Buch zu diesem Thema erschienen: J.J.B: Ästhetische Mobilmachung. Zur Praxis und Theorie der Musik- und Tanztheaterimprovisation in der Schule. Hohengehren, 2007.
[21] Siehe Anhang 7.5.
[22] Das Spektrum reicht vom Formaldehyd in der Spanplatte über dioxinhaltiges Pentachlorphenol in Holzschutzmitteln, krebsfördernde polychlorierte Biphenyle in Dichtungsmassen bis zum Nervengift Lindan in Teppichböden usw... (Siehe u.v.a. z.B. U. Jüdt-Duve, N. Jüdt: PCP nicht nur in Holzschutzmitteln – Ein Wirkstoff vor Gericht. vorsatz-verlag 1993 – nicht mehr im Buchhandel.)